Stefan Gwildis (Hamburg, 2003)
Musikhalle, 28.12.2003 - die Reise beginnt...
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Manni Otto (www.otto-photo.de)
Hätte man mir im Juli 2003, also vor einem halben Jahr, gesagt, dass meine Top-5-Konzerte, die ich über 25 Jahre angesammelt habe, sich bis Ende des Jahres völlig neu darstellen, hätte ich sicher gesagt, "das kann schon sein". Schließlich waren Fleetwood Mac und Deep Purple noch im November 2003 auf Deutschland-Tournee und für mich als Rock-Fan war da vielleicht großes zu erwarten.
Hätte man mir im Juli 2003 jedoch gesagt, dass neben Deep Purple und Fleetwood Mac plötzlich ein Konzert mit der Stefan-Gwildis-Band zu meinen Top-5-Konzerten der letzten Jahrzehnte gehören würde, den hätte ich für schlichtweg verrückt erklärt. Stefan Gwildis? Ist das ein Fußballer oder Politiker oder Fernseh-Moderator? Und hätte man mich dann aufgeklärt, dass dieser Stefan Gwildis Soul-Klassiker mit deutschen Texten singt, dann hätte ich schon abgewunken: "Nichts für mich".
Am 3.8.2003 erst lernte ich den Namen Stefan Gwildis kennen, als ich im NDR Fernsehen einen Beitrag über ein neues Luxushotel in Heiligendamm, dem Vorort meines Wohnortes, sah. Da trat Stefan Gwildis in der Bar des Hotels mit seinen Liedern auf. Meiner Frau und mir gefiel diese Umsetzung von Soul-Klassikern und wir kauften daraufhin bei Amazon die CD "Neues Spiel" (siehe CD-Vorstellung). Die CD wurde dann von meiner Frau "entführt" und lief bei ihr im CD-Spieler in "Heavy Rotation", so dass ich uns daraufhin im Oktober noch Karten für einen Live-Auftritt von Stefan Gwildis Ende Dezember in der Musikhalle in Hamburg besorgte. Die Karten waren ein Geburtstagsgeschenk für meine Frau, zu diesem Zeitpunkt war ich "nur" ihr Begleiter. Die Musik auf "Neues Spiel" war zwar schön, aber wie setzt er das live um? Und da Live-Musik für mich der Maßstab aller Dinge ist, war ich im Oktober noch kein "Fan" von Stefan Gwildis.
Am 1.11.2003 wurde ein Konzert der Stefan Gwildis Band im NDR-Fernsehen übertragen. Nach diesen 60 Minuten war ich von der Musik überwältigt. Stefan Gwildis spielte mit einer 13-köpfigen Band die Songs seines "neuen Spiels", mit diversen Improvisationen und Soli von fast allen Bandmitgliedern. Da ich seit 30 Jahren Fan der Gruppe Chicago bin, deren Hauptmerkmal eine dreiköpfige Horn Section (Posaune, Trompete, Saxophon) ist, schwärmte ich von der analog besetzten Bläsergruppe von Stefan Gwildis. Und jede der drei Background-Sängerinnen hätte als Solistin den "Support Act" des Konzertes bestreiten können, eine davon Regy Clasen, die ich erst später richtig kennen und schätzen lernte (siehe CD-Vorstellung "So nah" von Regy Clasen). Ein Cellist gab Liedern wie der deutschen Version von "Papa was a Rolling Stone" den richtigen "Drive". Am darauffolgenden Montag wurde auf NDR2 ein Radiokonzert mit etwas veränderter Setlist übertragen. Beide Programme zusammengesetzt ergaben einen etwa 80-minütigen Auftritt, der dann vom NDR für zwei Sendungen in 60-Minuten-Programme aufgesplittet wurde.
Meine extreme Vorfreude auf das Konzert Ende Dezember wurde dann im Laufe des Dezember etwas getrübt. In Presseberichten von der Neues-Spiel-Tour der Stefan-Gwildis-Band las ich, dass Stefan Gwildis mit einer fünfköpfigen Band auf Tour war. Ja klar, wer kann es sich leisten, mit 14 Leuten auf eine längere Tour zu gehen? Ein Blick auf die Website von Regy Clasen bestätigte dies. Dort waren zwar die September-Termine für die Fernsehaufzeichnung erwähnt, aber Ende Dezember keine Auftrittstermine mit Stefan Gwildis. Am 23.12. verabschiedete sich Regy Clasen auf ihrer Website von ihren Fans in den Weihnachtsurlaub.
Am Morgen des 28.12., einem Sonntag, bereitete ich mich wie üblich auf das Konzert am selben Abend vor. Ich sah mir noch einmal das Video der NDR-Sendung an. Beim Posaunen-Solo fiel mir auf der Posaune der Schriftzug "boxhorns.de" auf, Boxhorns nannten sich die drei Bläser von Stefan Gwildis. Als ich mal auf deren Website stöberte, entdeckte ich zu meiner Freude als nächsten Auftrittstermin eben diesen 28.12. in der Musikhalle. Jaaaa!!! Die Bläser waren also dabei, meine Laune stieg wieder. Schließlich entdeckte ich dort noch unter "DVDs", dass der NDR-Auftritt auch auf DVD veröffentlich werden sollte. Endlich!!!! Ich hatte schon die Verantwortlichen beim NDR und der Plattenfirma von Stefan Gwildis für völlig verrückt erklärt, dass eine solche Perle nur in den dritten deutschen Fernsehprogrammen versteckt wurde und nicht auf DVD veröffentlicht werden sollte.
Am Abend des 28.12. waren meine Frau und ich dann pünktlich vor der Musikhalle und wurden vor 19:00 Uhr noch nicht eingelassen. Die auf unseren Eintrittskarten aufgedruckten Merkmale wie "VIP" und "inklusive Gala-Diner" schienen keine Auswirkungen zu haben. Um 19:15 Uhr, vor dem Garderobentrakt wartend, kam plötzlich Hagen Kuhr, der Cellist aus dem NDR-Konzert, in den Eingangsbereich hinein. Uns fiel er gleich auf, ihm selbst fiel wohl nicht auf, dass er bei einigen jetzt schon aufgrund des NDR-Auftrittes ein "Star" war. Die gute Nachricht also: Neben den Bläsern war auch das Cello dabei.
Als wir dann um 19:30 Uhr in den Saal der Musikhalle eingelassen wurden, betrachteten wir zunächst die Bühne. Links und rechts hinten waren Podeste mit je drei Mikrofonen aufgebaut, links lagen die Blasinstrumente. Rechts mussten also drei Backgroundsänger oder sängerinnen stehen. Die jeweilige Höhe der aufgebauten Mikrofone (in der Mitte das höchste, rechts vom Zuschauer aus gesehen das niedrigste) schien genau passend für die drei Backgroundsängerinnen, die wir auch vom NDR-Konzert her kannten: in der Mitte stand dort Julia Schilinski, die große dunkelhaarige, rechts Regy Clasen, die kleine Blonde. Eines verriet die Bühne noch: Wir sahen, dass die Treppen zum Zuschauerraum rechts und links durch Boxen verstellt waren. Meine Frau meinte dann, das "einzeln Abfragen" bei einem Song, zu dem Stefan Gwildis in den Zuschaueraum gegangen war, um Zuschauer einzeln mitsingen zu lassen, konnte heute Abend nicht stattfinden: ohne Treppe konnte Stefan Gwildis die Bühne nicht verlassen. Wie wir uns täuschen sollten, zeigte später das Konzert.
Nach einer Ansage eines Moderators des veranstaltenden NDR 90.3 kam dann die 13-köpfige Band noch ohne Gwildis auf die Bühne. Tatsächlich, es war EXAKT die Besetzung vom NDR-Fernsehkonzert am 1.11., also auch mit den drei Background-Sängerinnen Alex Prinz, Julia Schilinski und Regy Clasen! Toll, man konnte sich zurücklehnen, es war geschafft: Der Wohlfühlfaktor war schon ohne einen Ton gehört zu haben auf dem Höhepunkt. Jetzt konnte man eigentlich wieder beruhigt nach Hause fahren .. ach nein, das wichtigste wartete ja noch, das Konzert selbst.
Um die einzelnen Songs besser vorstellen zu können, möchte ich mit der Struktur der Setlist dieses Abends starten. Die Setlist bestand wie in einem spannenden Fußballspiel aus fünf Teilen:
1. Halbzeit 20:10 - 21:05
Pause 21:05 - 21:30
2. Halbzeit 21:30 - 22:30
Verlängerung 1 22:30 - 22:50
Verlängerung 2 22:50 - 23:05
Elfmeterschießen 23:05 - 23:10
Folgende Songs wurden dann in den verschiedenen Teilen gespielt (dabei habe ich nur bei den Titeln, die nicht von "Neues Spiel" stammten, das Original-Album angegeben)
1. Halbzeit
Shaft (Fast-Instrumental-Intro)
Allem Anschein nach bist Du's
Mitten vorm Dock Nr. 10
Sie ist so süß wenn sie da liegt und schläft
Sie läßt mich nicht mehr los
Wajakla (von Wajakla)
Geh doch (von Wajakla)
Wem bringt das was
Lass mal ruhig den Hut auf
2. Halbzeit
Dein Herz ist ein einsamer Jäger (Duett mit Joja Wendt; von Gretes Hits)
Ich krieg keine Befriedigung (Satisfaction; Duett mit Joja Wendt)
Papa will da nicht mehr wohn'
Mond über Hamburg (von Komms zu nix)
Que sera
Schön, schön, schön
Komms zu nix (von Komms zu nix)
Verlängerung 1
Immer weiter
Warum komm ich nur so selten dazu
Baby (von Komms zu nix)
Verlängerung 2
Drum und Percussion Solo
Alis Bude (von Wajakla)
Elfmeterschießen
Lass mich nicht allein heut Nacht (Duett mit Mirko Michalzik)
Die Besetzung des Abends, gleichzeitig also die Besetzung des im Fernsehen ausgestrahlten Konzertes, war:
Stefan Gwildis - Gesang, Gitarre
Mirko Michalzik - Gitarre
Ralph Schwarz - Keyboards
Matze Kloppe - Keyboards
Achim Rafain - Bassgitarre / Bass
Martin Langer - Schlagzeug
Pablo Equaola - Percussion
Hagen Kuhr - Cello
Sebastian Johnny John - Posaune
Lukas Fröhlich - Trompete
Mathias Clasen - Saxophon / Flöte
Alex Prinz - Gesang
Regy Clasen - Gesang
Julia Schilinski - Gesang
Nun zum Konzert selbst...
Akustik und Sicht: Hatte man im Oktober noch einen Platz der besten Kategorie erwischt, das war im Saal in den ersten 15 Reihen (wir saßen in Reihe 12), so waren sowohl die Akustik als auch die Sicht auf die Bühne traumhaft. Die Tontechniker von Stefan Gwildis schafften es, alle Instrumente relativ transparent herüberzubringen - ein schlichtes Wunder, wenn man die Fülle der gleichzeitig spielenden Instrumente betrachtet.. Wenn es laut wurde, schlichen sich zwar manchmal Basstrommel und Bass in den Vordergrund, und manchmal waren Keyboards und Backgroundgesang etwas leise, aber allgemein war der Sound weitaus besser als in der überwiegenden Anzahl von Konzerten, die ich bisher besucht hatte. Der Saal der Musikhalle ist optisch auch ein Traum, die Bühne - mit einer Batterie von Orgelpfeifen im Blickfeld - sehr tief und damit geeignet für eine vielköpfige Band, die "Lightshow" simpel, aber zur Musik passend. Zwar hatten die Beleuchter manchmal nicht das richtige Händchen, wenn sie die beiden links und rechts außen am Bühnenrand sitzenden Keyboarder unterscheiden sollten (einmal wurde der linke beim Solo des rechten mit einem Spot beleuchtet), aber auch dieser Kritikpunkt war eher marginal. Ärgerlicher war schon die Akustik und die Sicht auf den Plätzen der vierten Kategorie im oberen Balkonbereich.
Als Stefan Gwildis das noch etwas zu zurückhaltende Publikum am Anfang noch scherzhaft fragte "Na, sitzt ihr bequem" bekam er vom oberen Balkon ein "Wir müssen hier stehen" zu hören - einen Kommentar, den Stefan Gwildis mit Gitarre gleich zu einem Lied verarbeitete. Nun gut, da dieser Konzertbericht subjektiv ist und ich von unserem Platz im Saal ausgehe, kann ich Reihe 12 Mitte auf jeden Fall jedem empfehlen. Noch etwas zur Show: Die sterile Musikhalle wurde durch Nebelschwaden noch etwas in Kneipenathmosphäre getaucht. Teilweise war es dann mit dem Nebel des guten zuviel, was Stefan Gwildis auch gleich wieder in eine geänderte Ansage zu einem Lied einfließen ließ: Vor "Sie lässt mich nicht mehr los" bescheibt er, wie er früher als Kind seine in der Küche stehende Mutter fragte, von wem der Song "Me and Mrs. Jones" stammt. Laut Ansage buk oder wusch seine Mutter gerade. Den Nebel ausnutzend, briet sie nun noch zusätzlich, und zwar scheinbar so heftig, dass Rauch aus der Pfanne aufstieg.
Die Ansagen: Eine lange Einleitung wie vor "Sie lässt mich nicht mehr los" ist für Stefan Gwildis der Standard. Als diplomierter Straßentheater-Schauspieler improvisierte er den aus dem Fernsehen bereits bekannten Ansagen teilweise so viele Windungen hinzu, dass er die Lacher auch von denen bekam, die das NDR-Video (wie wir) nun schon zum x-ten Mal gesehen hatten. So wurde sein Barmbeker Freund, der sich in die falsche Frau verliebt, vor "Schön, schön, schön" nun an diesem Abend sogar fast von einem Autobus überfahren. Und selbst Mutter fordert klein Stefan vor "Sie lässt mich nicht mehr los" auf, doch nun endlich zur Sache zu kommen. A pro pos klein Stefan: Laut Ansage hört Stefan als dreijähriger den Song "Me and Mrs. Jones" im Laufstall, "das muss so 30 Jahre her sein". Da ich laut Biographie von Stefan Gwildis im selben Monat wie der Entertainer geboren bin, danke ich hier schon einmal für die Jungbrunnenkur, die dieses Konzert ausgelöst hat.
Die Stimmung in der ersten Halbzeit: Zu Beginn war die Stimmung im Publikum noch sehr bedeckt. Die Kirchenathmosphäre der Musikhalle verführte zum mucksmäuschenstill sein. Im dritten Song "Mitten vorm Dock Nr. 10" sprang ein Mann (ich nenne ihn mal "Einpeitscher") in den ersten Reihen auf und versuchte, das Publikum auch dazu zu animieren. Ein Saalordner aber zeigte ihm, wie man sich in einer Kirche zu benehmen hat, nämlich artig auf dem Stuhl zu sitzen. Die Leistung des Publikums selbst war im selben Song auch etwas schwach, da in diesem Lied das Publikum mitpfeifen und zum Schluss auch mitsingen soll. Der deutsche Text schien vielen noch nicht geläufig zu sein, erst als Stefan Gwildis das erste Wort jedes Halbsatzes vorgab, wurde der Publikumschor lautstärker. Im vierten Lied "Sie ist so süß" kam das völlig unerwartete: Obwohl die Bühne 1,30 m hoch war (okayokay, wir hatten tatsächlich in der Halbzeitpause nichts besseres zu tun, als gleich nachzumessen), sprang Stefan Gwildis herunter und fragte das Publikum ab. Einige Zuschauer in den ersten Reihen mussten nun den "Uh uuh uhh, uh uuh uhh" Teil des Liedes mitsingen. Den Einpeitscher vom dritten Song nahm Lehrer Gwildis auch noch gleich dran. Das "Uh uuh uhh" klang zwar eher unterdurchschnittlich, der Zuschauer konnte aber mit einem "Du bist so gut drauf und das Publikum ist so lahm" gleich seinem Ärger Luft machen.
Als das Abfragen beendet war, stellten sich wohl Zuschauer und Stefan Gwildis die Frage "was nun? wie wieder auf die Bühne zurückkommen"? Mit einem verzweifelten Blick ins Publikum und dem Spruch "das war's dann wohl, war ein schöner Abend mit Euch" schien Stefan Gwildis eine Auswechslung auf die Reservebank und damit eine Flucht in den Garderobenbereich anzudeuten, schwang sich dann aber extrem sportlich den Bühnenrand hinauf - Begeisterung im Publikum. Später erinnerte Stefan Gwildis das Publikum noch einmal daran, dass früher Bill Haley in dieser Musikhalle Stimmung gemacht hatte und die Stuhlreihen später nicht mehr so aussahen wie vorher "Ich will ja nicht zur Gewalt auffordern, aber lasst Euren Gefühlen freien Lauf". Nach dem vorletzten Titel der ersten Halbzeit, "Wem bringt das was" mit einer schön verpackten und gerade im Jahr 2003 wieder aktuellen politischen Aussage, gab es den ersten tosenden Applaus des Publikums. Der dauerte so lange, dass sich die Backgroundsängerinnen, die sich schon umgedreht hatten und mit dem Rücken zum Publikum standen (um sich auf den nächsten Song vorzubereiten) mehrfach wieder über die Schultern schauten, was da denn los sei. Die Startposition mit dem Rücken zum Publikum übrigens gehörte zum letzten Lied vor der Pause "Lass ma ruhig den Hut auf".
Die Stimmung nach der Halbzeit: Das Publikum taute nun langsam auf. Dramatisch gut schon das Publikum bei der Klatsch-Percussion zum Stones-Titel "Satisfaction", der von Stefan Gwildis und dem Gast-Pianisten Joja Wendt - deutsche Direktübersetzungen auf die Schippe nehmend - mit "Ich krieg keine Befriedigung" (mit Betonung natürlich auf dem "di") umgetextet wurde. Das Gros des Publikums hatte den Klatschrhythmus mit dem erforderlichen Zwischenklatsch erstaunlich gut drauf. Aus den Sitzen gerissen wurde das Publikum dann im letzten Lied des regulären Set, ausgerechnet einem Lied, das nicht vom Erfolgsalbum "Neues Spiel" stammte. Vor "Komms zu nix" forderte Stefan Gwildis das Publikum auf, doch einmal zu sagen, was sie denn dem Schöpfer sagen würden, wenn sie später einmal vor ihn treten würden (und verließ dazu wieder die Bühne). "Was habt ihr im Leben denn geleistet?" Erste - politisch korrekte - Antwort aus dem Publikum war "ich war bei Stefan Gwildis im Konzert". Gwildis konterte sofort "Und der Schöpfer wird Dich dann fragen, hast Du auch alle seine CDs gekauft"? Eine Zuschauerin antwortete mit "Ich hab´s versucht", was Stefan Gwildis gleich wieder in ein improvisiertes Lied umsetzte.
Zurück auf die Bühne kam er übrigens jetzt mit Hilfe einer Trittleiter, die ihm die Saalordner bereitgestellt hatten. Die richtige Antwort auf die Frage kam dann von Stefan Gwildis selbst: "man kommt zu nix", was gleichzeitig auch die Einleitung zum letzten Titel war. Das Lied "Komms zu nix" riss endlich die Zuschauer im Saal aus ihren Sitzen. Insbesondere im Schlussteil, als das Lied in einen Gospelsong überging, fühlte man sich wieder wie in einer Kirche, aber diesmal einer temperamentvollen amerikanischen in einem Landstrich mit überwiegend schwarzer Bevölkerung.
Die Stimmung während der beiden Verlängerungen: Zum Glück blieb der größte Teil des Saales nach "Komms zu nix" für den Rest des Konzertes stehen, nur die ersten Reihen schienen sich wieder zu setzen. Im Stehen war es auch relativ einfach, Stefan Gwildis und Band wieder zu den Zugaben herauszuklatschen, herauszuschreien und herauszutrampeln. Selbst beim von Van Morrison stammenden Titel "Warum komm ich nur so selten dazu" standen alle, nur die Reihenstruktur löste sich plötzlich auf. Ich sah um uns herum nur Pärchen, die sich gerade eingehakt, umarmt, angefasst hatten und wo ER am liebsten IHR gerade das Gleiche gesagt hätte. Und da sagt die Presse, Gwildis sei ein "Frauenflüsterer" .. nein, hier hatte er den Männer etwas geflüstert .. und die meisten hatten verstanden. Fast etwas traurig die Stimmung beim "Elfmeterschießen", der dritten Zugabe mit Mirko Michalzik (Gitarre) und Stefan Gwildis als Duo. Das Lied "Lass mich nicht allein heut Nacht" sollte doch aber wenigstens 80 Minuten dauern .. hatte Stefan Gwildis vor dem Lied versprochen .. es waren nachher knapp 5.
Einige Anmerkungen zur 13-köpfigen Band:
Die Backgroundsängerinnen: Den dreien ging es schon beim dritten Lied "Mitten vorm Dock Nr. 10" sichtbar gut, als der Barhocker von Julia Schilinski vom etwas schmalen Podest gefegt wurde und die drei ihren Spaß daran hatten. Julia Schilinski war die Sängerin mit der (im wahrsten Sinne des Wortes) mitreißendsten Choreographie und auch mit den meisten Versuchen, dem Publikum zu zeigen, wann denn (mit)geklatscht werden durfte. Außerdem hat sie eine Stimme, die sicher auch für die Oper einige Straßen weiter passend ist. Alex Prinz, eine Hamburgerin mit brasilianischen Wurzeln, war die lustigste, sie "spielte" fast alle Lieder als Schauspielerin mit und litt auch einmal mit Stefan Gwildis, als sich andeutete, dass er gleich etwas wichtiges vergessen würde (siehe Bandvorstellung weiter unten). Regy Clasen, die kleinste, hat für mich die zu gefühlvollen Soulballaden am besten passende Stimme. Schade, statt der Halbzeitpause hätte ich mir ein oder zwei Solo-Lieder von ihrer ersten CD gewünscht.
Die Boxhorns: Für mich musikalisch der wichtigste Bestandteil der Band bei den meisten Soul-Klassikern. Bläser gehören dazu, um einen satten Klangteppich als Grundlage zu erzeugen. Endlich kann man in Deutschland den für mich großen drei Namen James Pankow (Posaune), Lee Loughnane (Trompete) und Walter Parazaider (Saxophon / Flöte) von der Band Chicago einmal eine ähnlich starke Truppe entgegensetzen .. und zwar nicht nur musikalisch, sondern auch von ihrer Show her. Jeder der drei hatte mindestens einen großen Solo-Auftritt. Rechnet man die Flöte im Eingangsstück "Shaft" dazu, konnte Mathias "Matsexy" Clasen sogar mit zwei Instrumenten glänzen (zum Saxophon-Duell mit Stefan Gwildis unten noch mehr). Lukas "Luke" Fröhlich konnte seine Trompete in "Papa will da nicht mehr wohn" zur Geltung bringen, für mich der Höhepunkt der Instrumentalsoli war das (gegenüber dem NDR-Auftritt sogar verlängerte) Posaunen-Solo von Sebastian "Johnny" John. Die Posaune fraß mehrfach fast das Mikrofon auf, und die Arme von Johnny John waren fast nicht lang genug. Und wenn die drei nicht ausgelastet waren, betätigten sie sich als Go-Go-Boys. Insbesondere in der Robotermann-Performance zum Text "so sehr ich mich für Dich verbog, ich pass nicht in deinen Katalog" des Titels "Schön, schön, schön" verbogen sie sich ganz schön.
Der Cellist: In der ersten Halbzeit fast durchgehend auf der Bühne, kam der große Auftritt dann bei "Papa will hier nicht mehr wohn". Hagen Kuhr, der bei vielen Songs mit weichem Cello-Spiel einige Akzente setzte, spielte sein Solo metallisch hart, aber perfekt passend zum Song. Apocalyptica ließen grüßen. Es ist eigentlich ein Trauerspiel, dass es moderne radiokompatible Pop-Rock-Musik nicht mehr wagt, ein Streichinstrument in dieser Form druckvoll gespielt einzusetzen. Dadurch wird Musik langweilig. Durch Hagen Kuhr wurde die Musik von Stefan Gwildis dagegen wieder ein Stück interessanter.
Die Band: Zwei Keyboarder, die sich abwechselten und gut ergänzten, mit Soli bei "Schön, schön, schön" (Ralph Schwarz, Hammond) und "Warum komm ich so selten dazu" (Matze Kloppe, Klavier), bereichern die Band ebenso wie das Rhythmus-Paket Schlagzeug (Martin Langer), Percussion (Pablo Esquayola) und Bass (Achim Rafain). Ein Schlagzeug- und Percussion-Solo gab es am Anfang der zweiten Verlängerung und es führte dann auch gleich in lateinamerikanische Rhythmen über, bei dem (bis auf Hagen Kuhr) jedes Bandmitglied plötzlich ein Percussion-Instrument mit auf die Bühne brachte (der Cellist trommelte auf seinem Cello). Achim Rafain spielte neben der Bassgitarre in einem Jazz-Stück auch einen richtigen Stehbass. Leider hatte er zu einem Solo, zu dem ihn Stefan Gwildis am Ende von "Schön, schön, schön" einlud, keine Lust (dazu noch mehr weiter unten bei der Bandvorstellung). Schließlich rundete Mirko Michalzik als Gitarrist die Band ab. Beeindruckend, wie er verschiedene Stilrichtungen auf der Gitarre beherrschte, so dass das "Flair" der Originaltitel erhalten blieb. Am Anfang des lateinamerikanischen Teils in der zweiten Verlängerung hatte er durch ausgiebiges Fotografieren des Publikums und einen Saitenriss fast noch seinen Einsatz verpasst. Solche Einlagen gehören aber dazu, ein Saitenriss gehört eben zum Live-Konzert und macht es nicht weniger perfekt.
Die Duelle: Faszinierend, wenn auch etwas kurz, die Duelle "Stimme gegen Instrument" bei vielen Titeln. Stefan Gwildis nahm es mal mit dem Saxophon, mal mit der Gitarre auf. Beim Start der Jazz-Einlage während der Zugaben leitete Stefan Gwildis sogar jedes Instrument einzeln ein. Faszinierend war dabei insbesondere sein Schlagzeug-Spiel mit der Stimme, das wir bisher in dieser Qualität eigentlich nur von einem älteren Konzert mit Celine Dion kannten.
Die Bandvorstellung: Zu jedem Live-Konzert gehört die obligatorische Vorstellung der Bandmitglieder durch den Star des Abends. Hier scheiden sich die Geister, ob die Vorstellung mit viel Liebe und ausführlich gemacht wird, oder ob es nur die Erfüllung einer Pflichtaufgabe ist. Vergisst man zunächst einmal die Vergesslichkeit von Stefan Gwildis, so war diese Bandvorstellung eine sehr gute.
Während die im NDR-Konzert während des Titels "Schön, schön, schön" zur Musik vorgenommene Vorstellung etwas gehetzt wirkte, ließ er sich dieses Mal an gleicher Stelle mehr Zeit, die Musiker hatten immer noch Zeit, einige Takte auf ihrem Instrument zu spielen. Als Stefan Gwildis die Band so vorstellte, litten wir nur immer kräftiger mit und bekamen schon Schweißausbrüche. Im NDR-Konzert hatte er seinen Gitarristen vergessen, hatte die Vorstellung von Mirko Michalzik dann aber an exponierter Stelle im Schlusstitel noch nachgeholt (Pech nur für die Hörer des NDR2-Radiokonzertes, dass sie nie erfahren haben, wie der Gitarrist hieß, da der Schlusstitel in der Radioversion herausgeschnitten wurde).
In der Musikhalle war nun der Bassist Achim Rafain das Opfer. Während Stefan Gwildis sich im Laufe der Vorstellung um seine eigene Achse drehte, um sich noch weiterer Bandmitglieder zu erinnern, wurde er mit großem Körpereinsatz erst von den Boxhorns und dann vom Background-Chor auf den Bassisten aufmerksam gemacht (alle zeigten in die entsprechende Richtung). Es nützte nichts, Stefan Gwildis ging mit dem Einstimmen des Refrains "Schön, schön, schön" zum traditionell letzten Teil der Vorstellung über, der Vorstellung der Backgroundsängerinnen. Auch diese wurden nun "einzeln abgefragt" und jede konnte den Refrain "Schön, schön, schön, aber nu is auch gut" auf ihre Art singen. Alex Prinz schien fast ihren Einsatz zu verpassen, weil sie sich noch um Achim Rafain bemühte ("da fehlt doch noch einer"), Julia Schilinski machte aus dem Text fast eine Arie. Einige Minuten später, am Ende des Stückes, machte Mirko Michalzik noch einmal darauf aufmerksam, dass der Bassist fehlte. Stefan Gwildis bat als Ausgleich dann Achim Rafain zum Bass-Solo nach vorn .. was dieser aber nur wenige Sekunden nutzte. Mit "Kennst du Level zweiundvierzig?" forderte Stefan Gwildis aber Achim Rafain noch zu einem Slap-Bass-Intro in bester Mark-King-Manier auf. Wir glaubten schon an die Adaption eines Level-42-Klassikers mit deutschem Text .. weit gefehlt, auch dieses Intro mündete dann wieder in "Schön, schön, schön".
Die Stilrichtungen: Soul-Musik, mal balladig wie bei "Warum komm ich so selten dazu", mal druckvoll wie in "Schön, schön, schön", erwarteten wir von Stefan Gwildis. Daneben gab es aber noch jazziges ("Mond über Hamburg"), lateinamerikanisches (“Baby”, "Alis Bude"), bluesige Balladen und sogar einen Gospelschlussteil bei "Komms zu nix". Ob die Zuordnung der verschiedenen Stilrichtungen zu den Titeln stimmt, kann ich leider nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Interessanterweise stammten die eben erwähnten Titel anderer Stilrichtungen von den beiden ersten CDs von Stefan Gwildis, "Komms zu nix" und "Wajakla". Leider konnte ich diese nach dem Konzert nicht mehr kontrollhören, obwohl ich zunächst bei Saturn und Media-Markt versucht hatte, diese zu bekommen. Naja, wajakla, oder im Klartext, war mir ja schon vorher klar, dass diese dort wohl nicht im Angebot sein würden. Aber auch bei jpc und Amazon, zwei ansonsten relativ gut bestückten Internet-Versendern, waren beide CDs nicht zu haben. Viel gesucht, hat alles Zeit kostet, man kommt wirklich zu nix, weil gute CDs so schwer zu bekommen sind .. Man hätte natürlich auch gleich nach dem Konzert noch zum Merchandising-Stand (Tipp von Stefan Gwildis während des Konzerts) ... naja, der war zu diesem Zeitpunkt aber schon überlaufen und außerdem war Wajakla nicht im Angebot. Wir hofften nach dem Konzert noch auf ein Wunder und auf ein vom Himmel fliegendes Gala-Diner für VIPs. Wär ja schön gewesen, vielleicht mit Interview-Möglichkeiten, Stefan Gwildis, Regy Clasen, mit Johnny John über James Pankow plauschen, ... aber man kann nicht alles haben. Wie waren wir nur an den VIP-Aufdruck auf den Tickets gekommen? Das wissen wir bis heute nicht.
Fazit: Es war ein tolles Konzert. Mit diesem einen Satz hätte ich das Konzert auch umfassend beschreiben können. Es war aber ein tolles Konzert nicht nur für Soul-Liebhaber, sondern für Liebhaber von leidenschaftlicher, komplett von Hand gemachter Live-Musik. Von Live-Musik, bei der keine Fahrstühle auf der Bühne hoch- und runterfahren, keine Feuerwerke gezündet werden, sich der Garderobenwechsel auf den Übergang von roten zu blauen Hemden beschränkt, aber Barhocker von Podesten gefegt werden .. und die Fußstützen im Saal durch das Trampeln der Zuschauer ganz schön leiden mussten .. immerhin, sie hielten, im Gegensatz zum Bill-Haley-Konzert. Auch Liebhabern von Rockmusik kann ich daher ein Stefan-Gwildis-Konzert wärmstens empfehlen, auch wenn ihnen das "neue Spiel" als Studio-Produktion zu glatt sein sollte. Hier hoffen wir mal einfach gemeinsam auf die besseren zwei Varianten: eine Live-CD und eine DVD vom NDR-Konzert, das bringt das Können der Band besser zur Geltung als jede Studio-Produktion. Zum Schluss noch ein kleiner Kritikpunkt an den Ausrichter NDR 90.3: Beim Opening wurde stolz erwähnt, dass dieser Sender täglich Stefan Gwildis spielt. Wir versuchten es am Folgetag mal, als wir im Auto wieder an Hamburg vorbei nach Rostock fuhren. NDR 90.3 probehören. Nach mehreren Minuten deutschen Schlagers im Stile von Jürgen Marcus und Roland Kaiser hatten wir die Nase voll: Stefan Gwildis passt zu Fleetwood Mac, zu Deep Purple, zu Led Zeppelin, zu Sheryl Crow, zu den Corrs (diese am besten live) .. aber nicht zu Roland Kaiser ...
(a.h.)
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Manni Otto, Credits: Manni Otto: www.otto-photo.de